Einführung Rojava
Rojava unter Beschuss
Aus dem demokratischen Experiment, wie medico die Entwicklungen Rojavas lange beschrieb, ist inzwischen eine konföderale und autonome Selbstverwaltung geworden, in der Minderheitenrechte, Gleichberechtigung und Demokratie das Handeln leiten. Zehn Jahre nach der friedlichen Übernahme Kobanês ist es nun an der Zeit, gemeinsam Bilanz zu ziehen und Perspektiven zu diskutieren.
Kurze Geschichte der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien
Seit über einem Jahrzehnt behauptet sich die Selbstverwaltung nun in Nord- und Ostsyrien. Im Verlauf des seit 2011 andauernden syrischen Bürgerkriegs zog sich das Regime des Diktators Baschar al-Assad in Damaskus immer mehr aus dem Norden des Landes zurück. Am 19. Juli 2012 begann daraufhin in der Stadt Kobane die »Rojava-Revolution.« Kurdische Kräfte übernahmen die Stadtverwaltung, weitere Städte und Regionen folgten in den nächsten Tagen und Wochen. Daraus entstand zunächst die kurdisch dominierte Selbstverwaltung von »Rojava«, die nun als »Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien« verschiedene Ethnien und Religionen umfasst. Die Verwaltung besetzt Posten immer doppelt mit Männern und Frauen, es herrscht Meinungs- und Religionsfreiheit und soziale und kulturelle Aktivitäten werden aktiv gefördert. International ist die Autonomieregion nicht anerkannt, aber ihr Militärbündnis »Demokratischen Kräfte Syriens« kämpfte innerhalb einer internationalen Koalition gegen den sog. Islamischen Staat, der 2015 in Kobane seine erste militärische Niederlage erleiden musste. Nach dem militärischen Sieg über die Dschihadisten intensivierten die Menschen in Nord- und Ostsyrien den Aufbau einer konföderalen und autonomen Selbstverwaltung, in der Minderheitenrechte, Gleichberechtigung und Demokratie das Handeln anleiten sollen. Dieses demokratische Experiment ist jedoch der türkischen Regierung ein Dorn im Auge. 2018 schickte sie Panzer über die Grenze, um Afrin in Syriens Nordwesten zu besetzen. Unter stiller Untersützung Russlands und der USA brachte Ankara daraufhin noch weitere Territorien im Norden Syriens unter seine Kontrolle. Aller Widerstände zum Trotz exisiert die demokratische Autonomieregion weiter und versucht die Errungenschaften der Revolution weiter zu verteidigen.
Türkische Angriffe auf Nord- und Ostsyrien
Der andauernde Krieg der Türkei gegen die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien zielt darauf ab, die kurdische Autonomie entlang der eigenen Südgrenze zu zerstören. Die Auswirkungen für die Bevölkerung sind verheerend: Infolge der Angriffe sind viele Menschen ohne Energieversorgung und werden in die Flucht getrieben.

Obwohl die Menschen von Nord- und Ostsyrien die Türkei nie angegriffen haben, führt Ankara einen unerbittlichen Krieg gegen die kurdische Selbstverwaltung. Artilleriebeschuss lässt den Menschen keine Ruhe. Drohnen töten ohne Warnung aus der Luft. Bomben fallen auf Kraftwerke, Schulen und Krankenhäuser. Die Folge: Menschen bleiben ohne Versorgung und werden so in die Flucht getrieben. Zahlreiche Regionen Nordsyriens sind besetzt und der Gewaltherrschaft protürkischer Milizen ausgesetzt. Was steckt hinter diesem brutalen Krieg?
»Ein erneuter Einmarsch ist – gerade da die Welt durch die Kriege in der Ukraine und Gaza abgelenkt ist – nicht ausgeschlossen.«
Seit Jahrzehnten geht die Türkei gegen die kurdische Bevölkerung vor. Ankara betrachtet kurdische Souveränität und Autonomie als Gefahr – sowohl im eigenen Land als auch in Nord- und Ostsyrien. Dort töten türkische Drohnen- und Luftangriffe immer wieder Politiker*innen und Zivilist*innen der Selbstverwaltung. Die Attacken treffen nicht nur die kurdische Bevölkerung, sondern auch Araber*innen, Christ*innen, Jesid*innen und andere Minderheiten.
In bislang drei Bodenoffensiven hat die türkische Armee in den letzten Jahren bereits große Teile Nordsyriens besetzt. Ein erneuter Einmarsch ist - gerade da die Welt durch die Kriege in der Ukraine und Gaza abgelenkt ist - nicht ausgeschlossen. Erdoğan hatte zuletzt wiederholt erklärt, Nordsyrien von „Terroristen“ zu „säubern“. Diese Drohung richtet sich an die gesamte Selbstverwaltung: Sie soll einer von der Türkei kontrollierten "Schutzzone" an der türkisch-syrischen Grenze weichen.
Was dies konkret für die Menschen vor Ort bedeutet, zeigt sich im türkisch besetzten Kanton Afrin. Lebten vor dem Einmarsch im Jahr 2018 in der Region über 90 Prozent Kurd*innen, sind es gegenwärtig weniger als 25%. Protürkischen Milizen plündern, entführen, morden und vergewaltigen in der besetzen Region nahezu straffrei.
2023 hat die Türkei ihre Angriffe intensiviert. Die Luftschläge haben die zivile Infrastruktur und weite Teile der Energieversorgungzerstört zerstört, sodass hunderttausende Menschen ohne Strom und Möglichkeiten zum Heizen oder Kochen sind. Dieser "Krieg niedriger Intensität" beeinträchtigt das Leben einer gesamten Gesellschaft.
Dabei erhält das NATO-Mitglied Türkei Unterstützung durch das westliche Militärbündnis. Rüstungsexporte aus Deutschland, Frankreich, Schweden, Spanien, Dänemark, aber auch die Zusammenarbeit mit dem europäischen Rüstungskonzern Airbus verdeutlichen dies. Deutsche und europäische Technologie steckt in den tödlichen Drohnen der Türkei.
Der Krieg der Türkei in Nord- und Ostsyrien ist somit ein Krieg gegen die dort lebenden Menschen. Aber er ist auch ein Krieg gegen eine politische Idee. Die Selbstverwaltung als demokratische Alternative zu Patriarchat und Nationalstaat soll vernichtet werden.
Foto: Sonia Hamad
Rojavas Ökologie - Eine Vision für Nachhaltigkeit und Widerstand
Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hat in ihrem Gesellschaftsvertrag festgeschrieben, dass alle das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt haben. Dafür soll eine ökologische Wirtschaft aufgebaut und Land, Wasser und Energie den Menschen zur Verfügung gestellt werden. Doch ist die Region in der Klimakrise und aufgrund des anhaltenden Krieges vor große ökologische Herausforderungen gestellt.

Rojava zieht sich entlang der türkisch-syrischen Grenze im Schatten des Taurus-Gebirges vom Irak bis fast ans Mittelmeer. Im Süden reicht die Region ins syrische Wüstenland. Kühle und regenreiche Herbst- und Wintermonate wechseln sich mit trockenen Sommern ab. Gerade an den Flussufern des Euphrat, Xabur und Tigris sowie in der Region Afrin finden sich viele fruchtbare Böden – beste Bedingungen für eine ökologische Landwirtschaft. Doch sieht, wer sich mit Nachhaltigkeit und Ökologie in der Region beschäftigt, vor allem Widersprüche.

Auf der einen Seite bietet die Selbstverwaltung seit der Revolution von 2012 zahlreiche Bildungsangebote an, um ein ökologisches Bewusstseins zu vermitteln. Vor kurzem wurde zudem ein neuer Ökologie-Rat für die gesamte Region gegründet, der praktische Lösungen entwickeln soll.
 
Auf der anderen Seite steht der Nordosten Syriens vor zahlreichen ökologischen Herausforderungen. Die Selbstverwaltung hat mit Wasserknappheit und Kriegsfolgen zu kämpfen. Die Klimaerwärmung bringt Hitzewellen mit sich und es regnet immer seltener, was den Großteil der Ernteerträge vernichtet. Daneben stecken die Türkei und mit ihr verbündete islamistische Milizen grenznahe Felder in Brand, wodurch jährlich zusätzlich zehntausende Hektar landwirtschaftliche Fläche verbrennen. Im Sommer sind in der Region Temperaturen von 45 Grad keine Seltenheit und das Grundwasser sinkt. Was dies praktisch bedeutet, sieht man in der Region Heseke. Im Sommer sind dort über eine halbe Millionen Menschen von Wasserlieferungen durch LKWs abhängig. Dafür ist auch die Aufstauung der Flüsse durch türkische Staudammprojekte verantwortlich. Verunreinigtes oder stehendes Wasser führt zudem zu Ausbrüchen tödlicher Krankheiten, wie Cholera. 
 Die Grundversorgung mit Wasser und Strom ist auch durch Sanktionen stark eingeschränkt. Ein ausgebautes Netz gibt es nicht, größtenteils läuft die Versorgung über umweltschädliche und ineffektive Diesel-Generatoren, die das Erscheinungsbild Rojavas ebenso stark prägen, wie kleine Öl-Öfen in Privatwohnungen, die dort die Luftqualität verschlechtern. Die Generatoren versorgen die Häuser mit Strom und betreiben die Wasserpumpen für die Landwirtschaft. Vor diesem Hintergrund stellten die türkischen Angriffe im vergangenen Winter die Region vor nie dagewesene humanitäre und ökologische Herausforderungen. Meldungen zufolge wurden ca. 80 Prozent der ohnehin bereits schwachen Infrastruktur, wie Umspannwerke oder Gasspeicher, durch die Bombardements zerstört.
Der ökologische Anspruch der Selbstverwaltung ist unter diesen Bedingungen nur schwer zu erfüllen. Doch gibt es Ansätze wie Aufforstungsprogramme, nachhaltige Düngung oder die Nutzung der Sonne zur Stromgewinnung. Diese Aufbauarbeiten gilt es zu intensivieren. Internationale Solidarität in Zeiten der ausufernden Klimakrise bedeutet auch, Verantwortung für die am meisten vom Klimawandel betroffenen Regionen zu übernehmen. Internationale Unterstützung, etwa bei der Dezentralisierung der Energieversorgung, kann einen wichtigen Beitrag für die Stabilität und die Zukunft dieses einzigartigen Projekts leisten.