Politisches System in Nord- und Ostsyrien

In Nord- und Ostsyrien findet ein einzigartiges soziales und politisches Experiment statt: Rund fünf Millionen Menschen verwalten sich selbst. Sie entwickeln eine demokratische Alternative zu Patriarchat, Nationalismus und Dschihadismus, die den Mittleren Osten in seine aktuelle tiefe Krise gestürzt haben. In tausenden lokalen Kommunen, Räten und Kooperativen organisieren sich Menschen mit arabischem, kurdischen, jesidischen oder christlichen Hintergrund, Männer und Frauen, selbst. Wie sieht diese konföderale Demokratie jenseits des Nationalstaates aus?

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Die Grundlage bildet die Selbstorganisation der Bevölkerung in lokalenKommunen, die zwischen 150 bis 1500 Menschen umfassen. Geleitet werden sieimmer von einer Doppelspitze aus einer Frau und einem Mann. Die Kommunenstellen die Versorgung mit Energie und Lebensmitteln sicher und organisierenSelbstverteidigung, Bildung, die Gesundheitsversorgung oder Konfliktlösung.Alltagsleben und politische Beteiligung fallen in ihnen zusammen und bildeneine Einheit. Ausgehend von dieser Basis existiert ein Rätesystem, von denNachbarschaften und Dörfern, über die Städte und Kantone bis hin zur gesamtenSelbsverwaltung. Diese Räte sind gemischt besetzt: Direkt gewählte Delegiertetreffen auf Vertreter*innen organisierter gesellschaftlicher Gruppen, wieEthnien, Glaubensgemeinschaften, Jugend und Frauen.

Als Gegengewicht zur Selbstverwaltung fungieren TEV-DEM, der Dachverbandzivilgesellschaftlicher Organisationen sowie Kongreya Star, der Verband allerFrauenverbände in Nord- und Ostsyrien. Die Befreiung der Frauen ist einer dergrößten Erfolge der Rojava-Revolution. Durch die „Doppelspitze“ und eigeneFrauenstrukturen in Politik und Militär, Frauenkooperativen und Frauenhäuserhaben sich die Frauen in Nord- und Ostsyrien Unabhängigkeit und politischeTeilhabe erkämpft.

Grundlage dieses politischen Systems ist der Gesellschaftsvertrag. Schon derBegriff zeigt, dass es der Selbstverwaltung nicht darum geht, einen eigenenStaat zu gründen. Seit 2023 gilt eine aktualisierte Version des Vertrags, dadie vorherige Fassung 2016 vor der Befreiung der mehrheitlich arabischenKantone Raqqa, Tabqa, Manbidsch und Deir ez-Zor vom „Islamischen Staat“verabschiedet wurde. Nach dem militärischen Sieg über Dschihadistenüberarbeitete die gesamte Gesellschaft den Gesellschaftsvertrag – ein gutesBeispiel für die Lebendigkeit der Demokratie in Nord- und Ostsyrien, die aufder Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen basiert. Damit bildet der Gesellschaftsvertragauch eine Möglichkeit zur friedlichen Lösung der aktuellen Syrienkrise.

Weiterlesen

  • Herausgeber_innenkollektiv (Hg.): Wir wissen, was wir wollen. Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien. Münster 2021
  • Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien:
    Der Gesellschaftsvertrag. https://nordundostsyrien.de/wp-content/uploads/2024/01/Der-Gesellschaftsvertrag-der-Demokratischen-Selbstverwaltung-der-Region-Nord-und-Ostsyrien-23012024.pdf
  • Thomas Schmidinger: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan, Wien 2017